«Plötz­lich tanz­ten mei­ne Bei­ne in un­ter­schied­li­chen Wel­len­for­men»

Vor 15 Jahren leistete der Bauingenieur Andreas Galmarini seinen ersten Einsatz in der humanitären Hilfe. Unterdessen weiss er aus eigener Erfahrung, wie sich ein Erdbebenereignis anfühlt und warum es in der Demokratischen Republik Kongo einfacher ist, eine Brücke zu bauen, als in Armenien.

Publikationsdatum
05-06-2025


Herr Galmarini, wie kam es zu Ihrem Engagement für das Schweizerische Korps für humanitäre Hilfe (SKH)?

Als ich nach meinen Wanderjahren in Dänemark und Südkorea in die Schweiz zurückkam, um an der ETH Zürich bei Prof. Marti zu doktorieren, meldete sich als Erstes die Schweizer Armee mit meiner neuen Einteilung. Im ersten Moment etwas ratlos, kam mir der Hinweis eines Kollegen, ich solle mich doch im dortigen Ingenieurstab bewerben, sehr gelegen. 

Nach erfolgter Umteilung besuchte uns eines Tages jemand, der die Tätigkeiten der Rettungskette Schweiz vorstellte und auf der Suche nach Ingenieuren für Auslandseinsätze war. Die Rettungskette besteht aus privat- und öffentlich-rechtlichen, zivilen und militärischen Partnerorganisationen. Das SKH ist als Einheit der DEZA Teil davon. 

Ich hatte grosses Interesse an derartigen Einsätzen – auch passten mein fachlicher Hintergrund, meine Fremdsprachenkenntnisse und meine Auslanderfahrung zu den gestellten Anforderungen. Ich meldete mich und mein erster Einsatz führte im Jahr 2010 nach Chile, wo sich im Februar ein Erdbeben der Stärke 8.8 Mw ereignet hatte. Nach solchen Ereignissen besteht für einen Staat ein grosses Interesse daran, die Menschen einerseits von risikoreichen Gebäuden fernzuhalten, sie andererseits aber auch zu einer Rückkehr zu ermutigen, wo es die jeweilige Situation erlaubt. 

Bei diesem Direkteinsatz des SKH ging es also darum, eine Vielzahl von Gebäuden in relativ kurzer Zeit überschlägig punkto Sicherheit zu beurteilen. Und weil jedes Land quasi nur Ingenieure für den täglichen Bedarf hat, brauchen auch Industrieländer in solchen Situationen ausländische Hilfe. Der Botschafter in Chile hat damals sehr schnell reagiert und noch am Tag des Bebens Schweizer Hilfe angeboten.


Wie haben Sie diesen ersten Einsatz erlebt?

Er öffnete mir die Augen in vielerlei Hinsicht. Eine erste Erkenntnis war, dass der äussere Eindruck eines Gebäudes nach einem Erdbeben nichts mit dem mittelbaren Schaden zu tun hat. Wenn etwa die Zentrale einer Wasserversorgung von aussen betrachtet noch in Ordnung zu sein scheint, kann sie gleichwohl im Innern Schäden aufweisen, die die Sicherheit des Betriebspersonals gefährden – und davon hängt letztlich auch die Wasserversorgung von 70 000 Menschen ab. 

Auch sind es – wie ich später in Nepal erlebte – nicht nur die vom Hauptbeben offensichtlich betroffenen Gebäude, die eine Gefahr für Menschen darstellen, sondern auch diejenigen, die einem Nachbeben nicht standhalten werden. In Chile erlebte ich ein Nachbeben der Stärke 6.5 Mw, während ich an einer Kreuzung stand; plötzlich tanzten meine Beine in unterschiedlichen Wellenformen. Auch konnte ich das Schwingen eines Gebäudes mit eigenen Augen beobachten. Ich sah genau: jetzt noch zwei bis drei Zyklen, dann stürzt es ein. Glücklicherweise stoppte das Beben vorher.

➔ Weitere Erfahrungsberichte aus dem Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe finden Sie in unserem E-Dossier SKH.


Solche Erfahrungen sind bestimmt enorm wertvoll im Berufsleben?

Ich denke, solche Erfahrungen kennen nur wenige Fachleute aus erster Hand. Natürlich sind viele Erkenntnisse aus vergangenen Ereignissen und gewisse Grundsätze problemlos übertragbar. Dennoch gibt immer wieder neue Augenöffner: In Chile war ich an einem Ort mit vier Gebäuden, die baugleich, zur selben Zeit und vom selben Bauunternehmer erstellt wurden. Zwei davon überstanden das Beben ohne Schäden, eines mit geringfügigen Schäden und das vierte war aufgrund des punktuell ungünstigen Baugrunds und anderer Topografie gänzlich zerstört. Das lehrt einen eine gewisse Demut betreffend die Grenzen unserer Ingenieurmethoden.

Wichtig ist, was man daraus lernt. Die Auswirkungen von Erdbeben hängen ab von lokalen Vorkehrungen, diese wiederum widerspiegeln den historischen Wissenszuwachs in der jeweiligen Gesellschaft. Während sich beispielsweise in Japan und auch Chile mehrere Erdbeben pro Generation ereignen und Erfahrungen sowie Wissen daraus problemlos übertragbar sind, können in Zentral- und Nordeuropa ohne Weiteres mehrere Jahrzehnte oder Jahrhunderte zwischen zwei Ereignissen liegen. 

Mit den heutigen Mitteln im Wissensaustausch und dank Simulationen ist der Wissenszuwachs heutzutage weltweit gross. Interessant ist auch: Wenn man in Chile jemanden fragt, wen er für einen Hausbau benötigt, lautet die Antwort «einen Ingenieur». Einen Architekten beauftragt dort nur, wer ihn sich leisten kann.

Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Erdbebenvorsorge nützt etwas. Wenn wir die Ereignisse in Chile und Haiti aus dem Jahr 2010 vergleichen, hat das Beben in Chile zwar grosse Sachschäden verursacht, forderte aber nur wenige Menschenleben – in Haiti war es genau umgekehrt. Das hat damit zu tun, dass in Chile aufgrund der Erfahrungen aus der Vergangenheit Erdbebenvorsorge betrieben wird.


Wie ging es danach weiter?

Nach Chile war mein nächster Einsatz in der Republik Kongo, nachdem mitten in der Hauptstadt Brazzaville ein Munitionslager explodiert war. Dazu muss man sagen, dass Effekte auf umliegende Strukturen nach Erdbeben und Explosionen sehr verwandt sind.

Einige meiner Einsätze leistete ich auch von der Schweiz aus. Ich unterstützte dabei Kollegen vor Ort mit einer Zweitmeinung oder -einschätzung; wir nennen das «Remote Backstopping». Ich persönlich finde das sehr interessant, weil man zielgerichtet mit wenig Aufwand einen wertvollen Beitrag leisten kann, und es funktioniert in der Regel sehr gut, wenn man sich schon kennt.

Im Jahr 2020 kam dann eine Anfrage des Hilfswerks der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (HEKS) für die Unterstützung bei der Aufbereitung und Dokumentation eines ihrer Projekte in der Demokratischen Republik Kongo. So kam ich zu einem Einsatz, der mich nach Nordkivu, einer Provinz im Osten des Landes führte. 

Die Millionenstadt Goma war Ausgangspunkt, um den Zustand einer Brücke in der Stadt Pinga, rund 150 km nordwestlich von Goma, zu beurteilen. Im Netzwerk der kaum befestigten Strassen stellen Brücken kritische Elemente dar. Wenn sie nicht passierbar sind, können Dörfer oder ganze Regionen von der Aussenwelt abgeschnitten sein, was enormen Einfluss auf die wirtschaftliche Lage, die Gesundheit, den Zugang zu Wissen und die Entwicklungsmöglichkeiten der betroffenen Menschen hat. Auch gehen Hilfsorganisationen – insbesondere in Konfliktgebieten wie diesem – in der Regel nur an Orte, aus denen im Bedarfsfall eine rasche Evakuation möglich ist.

Was wir dann vor Ort in Pinga antrafen, war erschreckend: Einerseits war die Brücke in einem desolaten Zustand – ganze Querträger waren von Rost zerfressen –, andererseits staute sich das Wasser an der durch die Brücke geschaffenen Engstelle zeitweise derart hoch, dass es die Vorländer und dortigen Strassen bis zu einem halben Meter überschwemmte. 

Kurzum: Eine Instandsetzung war keine Option, die Brücke musste komplett ersetzt werden. Noch vor Ort entwarfen wir das Konzept einer Bogenbrücke mit einer schmalen Stütze in der Mitte und definierten die erforderlichen Aufnahmen, um aus dem Konzept ein Ausführungsprojekt zu machen.


Was gilt es bei einem derartigen Entwurf zu beachten?

Zunächst einmal gilt es die genauen Bedürfnisse zu klären und zu überlegen, was mit lokalen Ressourcen machbar ist; das beginnt bei den handwerklichen Fähigkeiten der Lokalbevölkerung und geht über die Verfügbarkeit von Baumaterialien bis hin zum Zugang zu Maschinen. 

In Pinga entwickelten wir deshalb die Brücke mit einem mit Beton ausgegossenen Stahlskelett als Tragwerk. Einschränkend war, dass wir keinen Kran einsetzen konnten. Die einzigen Maschinen auf der Baustelle waren ein Betonmischer und ein Vibriergerät, der Rest erfolgte in Handarbeit mit Schubkarren. 

Sogar der Kies wurde von Hand gebrochen, die Mengen des Zuschlags in der Einheit «Schubkarre» pro Sack Zement und Wasser abgemessen. Auch der Stahlbau wurde mit Handschlüssel und aus leicht transportierbaren Einzelteilen montiert.

Daneben gab es im Entwurf verschiedene Herausforderungen. So schlugen etwa die lokalen Vertreter eine Brücke ohne separaten Gehweg vor. Aus unserer Sicht war dieser Vorschlag untragbar und mit der Anordnung eines Fusswegs und dem Freiraumprofil des Flusses landeten wir letztlich bei der Bogenbrücke. 

Auch in Bezug auf die geometrische Gestaltung der Fahrbahn galt es einiges zu beachten. Am Ende wurde die Fahrbahn so breit, dass sie offensichtlich zu eng für einen Panzer und zu schmal für das Kreuzen zweier Autos ist, aber dennoch etwas breiter als ein LKW.

In der Ausführung funktionierte bislang alles erstaunlich gut; insbesondere angesichts der prekären Sicherheitslage in der Region. Auch die Ausführungsqualität ist beeindruckend. Dies ist umso bemerkenswerter, als wir mit einem 3-D-Modell arbeiten und lediglich einzelne Illustrationen zur Unterstützung anfertigten; die Brücke ist also ein BIM-to-Field-Projekt! Unterdessen ist die eine Hälfte der Brücke gebaut. Während der Bewehrungsarbeiten am Flusspfeiler ereignete sich sogar noch ein Hochwasser und die Baustelle blieb schadlos.

Um eine minimale Verkehrskapazität während der Bauzeit aufrechtzuerhalten, musste zusätzlich zur Strassenbrücke eine Fussgängerbrücke, die auch von Motorrädern befahrbar ist, wenige hundert Meter flussaufwärts geplant werden.

 Es zeigte sich schon bei der Begehung, dass mit der gleichen Technik auch ein lang gehegter Wunsch der Bevölkerung von Lukweti, einer kleinen Ortschaft rund 30 km südöstlich von Pinga, erfüllt werden kann. Dort werden immer wieder improvisierte Brücken gebastelt, die jedoch regelmässig kollabieren, sodass die Querung für die Bevölkerung stets risikoreich war – mit dem eigenen Leben als Einsatz. 

In Lukweti wurden innerhalb eines Jahrs nacheinander vier Bambus-und-Draht-Brücken gebaut, die wieder einstürzten. Mit Unterstützung durch USAID und die DEZA konnte eine dauerhaftere Lösung geplant und realisiert werden.


Also lassen sich solche Konzepte skalieren oder auf andere Orte übertragen?

Wir haben für die beiden Fussgängerbrücken selbst auf bewährte Konzepte zurückgegriffen und diese in angepasster Form realisiert. Ich denke, diese Art von Wissenstransfer ist ungemein wichtig in der humanitären Hilfe, bei der man in kurzer Zeit und mit begrenzten Möglichkeiten robuste Lösungen schaffen soll.

Man darf sich aber von solchen Erfolgsgeschichten nicht täuschen lassen. Als sich im Sommer 2024 in Armenien ein Hochwasser ereignete, das verschiedene Brücken entlang eines Flusses und ausserdem die Hauptverbindung nach Georgien – Armeniens wichtigstem Handelspartner – stark beschädigte, boten wir dasselbe Konzept an, um innert kurzer Zeit zumindest für Fussgänger wieder dauerhafte Verbindungen herzustellen. 

Die Idee wurde seitens der lokalen Behörden dankbar aufgenommen und ich durfte Kollegen aus dem Korps bei der Planung von zwei Brücken nach dem gleichen Prinzip wie in Lukweti unterstützen. Die Anpassung der Grundkonzepte «für die grüne Wiese» auf semi-urbane Verhältnisse mit vielen Randbedingungen erwies sich als nicht zu unterschätzende Aufgabe, für die jedoch gute Lösungen gefunden wurden. 

Leider stellte sich dann aber heraus, dass sich der Enthusiasmus der lokalen Bevölkerung nicht in gleichem Masse auf die zentrale Verwaltung überschlug, die für die Verträge und Bewilligungen zuständig ist. Darüber hinaus zeigte sich, dass es schwierig beziehungsweise unverhältnismässig teuer sein kann, Materialien in einem Land zu beschaffen, dessen Nachbarn und Hauptlieferanten aus politischen Gründen mit Sanktionen belegt sind oder mit denen das Empfängerland selbst im Clinch ist und deshalb auch kein Handel stattfindet. 

Als Konsequenz werden wir die Projekte in Armenien nicht selbst realisieren, sondern die fertigen Ausführungsprojekte an die lokalen Behörden abgeben.


Was bedeutet Ihr Engagement in der humanitären Hilfe für Sie selbst und Ihre Firma?

Die Einsätze im Rahmen der humanitären Hilfe sind grundsätzlich persönliche Mandate, für die mir die Firma unbezahlten Urlaub gibt oder bei denen die Firma die direkten Lohnkosten erstattet bekommt. Einsätze setzen seitens der Firma Wohlwollen und eine hohe Flexibilität voraus: Aufgaben müssen kurzfristig von anderen Mitarbeitern übernommen werden. In der Regel gibt es auch Kunden, Planungspartner oder Unternehmer, die etwas länger auf ihre Resultate warten oder mit denen Termine verschoben werden müssen. 

Das ist nie ein Wunschszenario, aber oft treffen wir zum Glück auf Verständnis oder gar moralische Unterstützung. Die gleiche Flexibilität braucht es auch seitens der Familie, damit ein Einsatz zum Erfolg werden kann.

Wenn ein Mandat ausnahmsweise eine Planungskomponente beinhaltet, kann es sinnvoll sein, diese Teilaufgabe über die Firma abzuwickeln, wo beispielsweise auch die entsprechenden IT-Programme vorhanden sind. Als Firma sehen wir die Einsätze als Weg, um einen Dienst an der Gesellschaft zu leisten. Andere Unternehmen machen das finanziell, wir ziehen den direkten Weg vor, weil wir so die Gewissheit haben, dass unsere Unterstützung zu 100 % dort ankommt, wo sie benötigt wird.

Für mich persönlich ist mein Engagement eine Horizonterweiterung und auch technisch enorm bereichernd. Oftmals sind es Projekte, die viel «engineering judgement» erfordern. Das ist etwas, was in unserem normativ geregelten Berufsumfeld oft zu kurz kommt. 

Zudem erhalte ich gerade bei Erdbeben Einblicke, die mir sonst vorenthalten blieben. Der Einblick in die lokale Gesellschaft und der Austausch mit Leuten vor Ort ist viel direkter und tiefer als bei einem touristischen Besuch.

Faszinierend finde ich zudem die Auseinandersetzung mit althergebrachten Bautechniken und Baustoffen oder auch Einschränkungen beim Bauen aufgrund lokaler Gegebenheiten. Solche Voraussetzungen – wie beispielsweise das Bauen ohne Kran in Pinga – und das zugehörige Wissen führen oft zu schlanken und aufgelösten Strukturen, die automatisch nachhaltig sind, weil sie sparsam mit den Ressourcen umgehen. Zudem wird oft nur gebaut, was wirklich wichtig ist. Das macht das Bauen in Bezug auf Nachhaltigkeit fortschrittlicher als bei uns!
 

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