«Um ein Pro­blem zu lö­sen, muss nie­mand stur der Norm fol­gen»

Interview mit SIA-Rechtskonsulent Beat Flach

In der Schweiz verhindern nicht Paragraphen und Normen das «einfache Bauen», sondern Unsicherheit und Bürokratie. Beat Flach, Jurist, Nationalrat und SIA-Rechtskonsulent, fordert mehr Mut zu pragmatischen Lösungen und Vertrauen in das, was das Gesetz tatsächlich erlaubt.

Publikationsdatum
20-08-2025


Herr Flach, bevor wir ins Thema einsteigen, was bedeutet für Sie «einfaches Bauen» und der Begriff «Gebäudetyp E»?

Beat Flach: Der «Gebäudetyp E» scheint ganz verschiedene Ansprüche bedienen zu müssen: Schneller, einfacher und billiger, bedürfnisgerechter – und vor allem will man mehr Wohnraum. «Einfach» heisst aber nicht unbedingt «simpel», sondern vielleicht eher «schnörkellos». Eine Art zu Bauen, die mit weniger Vorschriften und einem gelockerten Korsett an Normen einhergeht.


Das Konzept «Gebäudetyp E» stammt ursprünglich aus Bayern, Deutschland, wo erst dank der gesetzlichen Verankerung einfacher gebaut werden darf. Wie sieht es in der Schweiz aus?

Deutschland ist bekannt für seine Bürokratie, auch im Baubereich. Es gibt Vorschriften für alles – bis hin zur Anzahl Steckdosen pro Zimmer. Das gibt es in der Schweiz nicht. Wenn ich simpel bauen will, darf ich das. Da stellt sich vielmehr die Frage: Was haben wir heute für Ansprüche an das Wohnen? Denn im Gegensatz zu Normen und Vorschriften, die Hygiene und Bausicherheit – etwa Brandschutz und Statik – betreffen, kann von Komfortvorstellungen abgewichen werden. 


Wenn es in der Schweiz kein Gesetz gibt, das den «Gebäudetyp E» verhindert, wo liegt dann das Problem?

Vielleicht liegt es an den Architekten, die den Aufwand scheuen, das den Bauherrschaften zu erklären. Oder daran, dass Auftraggebende einfach Lösungen erwarten, die funktionieren. Ich habe Verständnis dafür, dass Investoren, die teilweise jahrelang auf eine Baubewilligung warten, keine Experimente mit Re-Use oder «Gebäudetyp E» machen wollen. Sie geben den Druck dann an die Planenden weiter. Hinzu kommt, dass auf Seiten der Baubewilligungsbehörde keine Expertise zum experimentellen, ein­fachen Bauen vorhanden ist. Und am Ende steht die Vermarktung des Wohnraums: Wenn die Miete hoch ist, so steigt auch der Anspruch an Komfort – gerade im Neubau. 


Braucht das Schweizer Gesetz eine Anpassung?

Ja, und zwar beim Bauen im Bestand. Unsere Normen und Bauvorschriften sind auf das Bauen auf der grünen Wiese ausgerichtet – und den Ersatzneubau. Hier machen Vorgaben wie Abstands- und Brandschutzvorschriften, Schallschutz sowie energetische Ziele Sinn. Aber beim Umbau stösst man schnell an Grenzen. Muss ein Bau aus den 1970er-Jahren wirklich nach den Regeln der Baukunst von 2025 umbaut werden? Ich behaupte: Man kann das lockerer angehen. Eine weitere Hürde ist die Innenverdichtung.


Inwiefern ist die Innenverdichtung ein Problem?

Auch die Lärmschutzvorschriften sind auf Neubauten ausgelegt. Der Wunsch nach Innen­verdichtung und das Bauen im Bestand beisst sich aber mit den Schallschutzvorschriften sowie gesellschaftlichen Hürden. Hier stellt sich die Frage, ob wir hinsichtlich «Gebäudetyp E» – der sich auf sicherheitsrelevante Aspekte wie Brandschutz und Erd­bebensicherhheit beschränkt – die Schallschutzthematik den Komfortnormen oder bereits dem Lärmschutz zuordnen. 


Es soll nach den Regeln der Baukunst gebaut werden – so steht es im Schweizer Baugesetz. Welche Funktion kommt den SIA-Normen zu? 

Die Normen geben das wieder, was in der Praxis unwidersprochen umgesetzt wird – und etliche kantonale Gesetze verweisen darauf. Normen sind mehr als Leitfäden oder Empfehlungen. Dank eines Passus kann das Ziel auch auf einem anderen Weg erreicht oder über eine Nutzungsvereinbarung wegbedingt werden. Das lernen Ingenieurinnen und Architekten schon im Studium. Durch die Normen versucht der SIA die Kreativität zu fördern. Um ein Problem zu lösen, muss niemand stur der Norm folgen, und genau das müssen die Planenden eben auch der Bauherrschaft sowie den Bewilligungs­behörden erklären. 


Welche Rolle spielt die Bewilligungsbehörde?

Am runden Tisch im Berner Hof, an dem vom Mieterverband über den Baumeisterverband bis hin zum Bundesamt für Wohnungswesen alle vertreten waren, war die Komplexität der Bau­bewilligungsverfahren ein Kernthema. Wenn die politische Rückendeckung fehlt, zeigen sich die Behörden verunsichert und die Projekte werden im Zweifelsfall nicht bewilligt. Dabei liessen die Gesetze und gerade die Normen viel mehr Freiheiten und Kreativität zu als man denkt. Je weiter die Entscheidungsinstanz von der politischen Behörde entfernt ist, desto schwieriger wird es – etwa bei ausgelagerten Baubewilligungsbehörden in kleinen Gemeinden. 


Worauf stützen sich die Bewilligungsbehörden?

Die Behörden haben Angst vor Willkür und Einsprachen – und damit Sorge, eine kreative Idee zu bewilligen, die sie so nicht in den Unterlagen finden. Die Beweisschuld wird dann den Planenden zugeschoben – und das ist kreuzfalsch! Die Baubewilligungsbehörde muss anhand des Baugesetzes, der Bauverordnung oder einer verbindlichen Norm, wie etwa der SIA 500 darlegen, weshalb die Lösung nicht erlaubt ist. Neben den technischen Normen – wie denjenigen des SIA oder des VSS, die in partizipativen Prozessen erarbeitet werden – gibt es zahlreiche Papiere von Dritten. Diese geben für jeden ungeregelten Fall als selbsternannte zuständige Dienststelle sofort eine Regelung heraus. Diese «Richtlinien» führen zu unglaublichen Kosten und unreflektierten Umsetzungen. Die Stadt Zürich etwa setzt eigene Regeln auf, wann der Gebäudestandard bei einer Renovation angepasst werden muss. So gelangen diese «Regelwerke» in das Repertoire von Baubewilligungsbehörden, deren Unterlagen mittlerweile Bücher sind. Das ist der Amtsschimmel im vollen Galopp! 


Was wäre denn die Aufgabe der Behörden? 

Die Beamten müssen die Baubewilligungsfähigkeit eines Gebäudes und keine Toleranzen am fertigen Bau überprüfen. Gegen diese Art von Überregulierung müssen die Planenden und meiner Meinung nach auch der SIA als Verband kämpfen. Genauso die Wirtschaft sowie die Politik, die wegen der Wohnungsknappheit jammert. Die Behörden müssen befähigt werden, eine Baubewilligung auszusprechen. 


Eine vereinfachte Baubewilligungspraxis kann also dafür sorgen, dass das Bauen wieder attraktiver wird. 

Heute sind Baubewilligungsverfahren schon fast ausführungsreif. Ein zweistufiger Bewilligungsprozess für Um- und Neubauten regelt in einer ersten Stufe die wichtigsten Punkte im vereinfachten Verfahren. Zu diesem Zeitpunkt dürfen auch Einsprachen erhoben werden. Das gibt Investorinnen die nötige Sicherheit. In der zweiten Stufe werden die Detailfragen geklärt. Das spart Zeit und Kosten – und animiert Investoren zum Bauen.


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Sehen Sie Handlungsbedarf für eine Harmonisierung der Regelwerke oder eine Art Schlichtungsstelle? 

Ich habe dazu ein Postulat für eine Harmonisierung beim Bundesrat eingereicht. Das Postulat wurde beraten, doch das Parlament verwarf die Vorschläge des Bundesrats, die der Mehrheit – wie auch mir – nicht zielführend schienen. Amtsstellen haben die Tendenz zu regulieren, um Einfluss zu gewinnen. Doch die Wohnungsknappheit ist ein Thema, das die Fronten zusammenrückt. Hier bringt der «Gebäudetyp E» vielleicht Bewegung ins Spiel: Nicht als gesetzliche Grundlage, sondern als Argumentarium. Und darin liegt auch eine Chance für die Fachwelt, sich zu beweisen.


In der Praxis bedeutet einfaches oder experimen­telles Bauen heute oft weder eine günstige Planung noch mehr Gewinn – im Gegenteil.

Absolut. Gerade beim experimentellen Bauen kommen rechtliche Stolpersteine, wie etwa Gebrauchstauglichkeits- und Mängelfragen sowie die Unwissenheit der Baubewilligungsbehörden hinzu. Die Konsequenz: Es wird leider viel Bestand abgerissen und neu gebaut. Das ist effizienter und ertragreicher. Heute liegt es im eigenen Interesse der Planenden, die Baukultur voranzutreiben – unterstützt von der richtigen Bauherrschaft.


Die Forderungen nach Vereinfachungen kommen heute aus zwei Lagern: aus der ökologischen Bewegung, die das Bauen im Bestand belohnen will, und von den Investoren resp. der Immobilienbranche. Wo setzen Sie den Schwerpunkt? 

Ein «Gebäudetyp E» kann heute im Neubau bereits realisiert werden. Den Standard muss der Investor abwägen. Die Diskrepanz von Haushaltszusammensetzungen, Wohnverhalten und der damit einhergehenden Unterbelegung und den erhöhten Wohn­raumflächenverbrauch pro Person im Bestand kann aber auch der «Gebäudetyp E» nicht lösen. Wer «einfach» bauen will, kann das. Die Abwägung, ob das nach­haltig ist, müssen Architektinnen, Ingenieure, wie auch Investorinnen treffen.


Sie sehen also für das «einfache Bauen» im Bestand die grösste Hebelwirkung?

Ja. Ich sehe das Potenzial in erster Linie im Umbau, wo pragmatisch gebaut wird. Hier braucht es für die Planenden Vereinfachungen. Keine Ausnahmebewilligungen, die zur Präjudiz für den nächsten Fall werden, sondern mehr Verhältnismässigkeit. Auch im energetischen Bereich: Wenn ein Umbau die gleichen Anforderungen an die CO2-Bilanz erfüllen muss wie ein Neubau, ist das falsch. Mit dem vereinfachten Bauen und Verfahren schlagen wir mehrere Fliegen mit einer Klappe: schneller mehr, und vielleicht auch günstigere Wohnungen im Siedlungsraum. Und wir sparen gleichzeitig CO2 ein. 


Ein Versuch, das Ganze auf den Punkt zu bringen: Die verworrene Situation hat also mit fehlender Erfahrung sowie der unterschiedlichen Auslegung des Gesetzes zu tun und betrifft Planung, Bau­herrschaften und Behörden gleichermassen. 

Der Fachkräftemangel ist überall spür­bar. Wer weiss, wie der Hase läuft, hat mehr Selbstvertrauen und kann mehr Risiko eingehen. Wer wenig Expertise hat, den muss man befähigen, ausbilden und ermutigen. Und da fehlt die politische Führung.


Und wer sagt es der Politik? 

Die Baubranche, die die Regeln der Baukunst in der Praxis unwidersprochen über Jahre hinweg anwendet und gegenüber der öffentlichen Hand und privaten Bauherrschaften zeigt: Wir können einfacher bauen und gewisse Komfortregeln über Bord werfen. Wenn alle zusammenstehen, können wir etwas bewegen. 

Mehr Spielraum in Bayern mit dem «Gebäudetyp E»


Das Bauen in Deutschland gilt als überreguliert und gleicht einem Bürokratie-Dschungel. Normen, Vorschriften und technische Standards schreiben den Planenden immer genauer vor, wie gebaut werden darf. Das soll der «Gebäudetyp E» ändern: Der Architekt Florian Dilg rief die Initiative der Bayerischen Architektenkammer ins Leben, um dem Bauen wieder Luft zu verschaffen. Im Interview mit der Initiative Baukunst sagte Dilg: «Viele Menschen verstehen die extremen Qualitätsansprüche der Normen nicht mehr.» Der «Gebäudetyp E» bietet eine Alternative: ein normenreduziertes Bauen im Einvernehmen mit der Bauherrschaft, ohne dabei die Schutzziele der Bauordnung zu verletzen. «E» steht dabei für vieles: einfach, experimentell, effizient und eigenverantwortlich. 

 

Rechtlich stützt das Bayerische Staatsministerium für Wohnen, Bau und Verkehr die Initiative, indem es Abweichungen von der Bauordnung erleichtert hat. Damit schafft das Land Bayern Raum für Pilotprojekte, für die Planende zusammen mit öffentlichen und privaten Bauherrschaften neue Wege gehen. So etwa mit vereinfachter Haustechnik, alternativen Materialien oder reduziertem Schallschutz. Die Projekte werden wissenschaftlich begleitet, um die Auswirkungen des vereinfachten Bauens auf Qualität, Kosten und Nachhaltigkeit zu untersuchen.

 

Für Florian Dilg ist klar: «Wir wollen die Normen nicht abschaffen, sondern ergänzen – durch einen selbstbestimmten Weg.» Die bayerischen Pilotprojekte sind ein wichtiger erster Schritt, der zeigt, dass vereinfachtes Bauen nicht Verzicht bedeutet, sondern Freiraum für neue Lösungen, kosteneffizientes Bauen und Nachhaltigkeit. Der «Gebäudetyp E» ist also kein Rückschritt ins Grobe, sondern ein Versuch, das Bauen wieder näher an die Realitäten und Bedürfnisse von Bauherrschaften, Planenden und Nutzende zu rücken.
 

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